Würde man nach einer Definition im Duden gehen, würde es heißen: "Provinz (abwertend): eine Gegend, die kulturell (im Vergleich zu einer Großstadt) wenig bietet." In meinen Anfängerjahren als Schauspieler habe ich in Städten gearbeitet, die viele, und schlimmer noch, die sich selbst als "Provinz" bezeichnet hätten. Ich persönlich habe nie wirklich verstanden, nach welchen Kriterien dieses Etikett verliehen wurde. Die "Provinz" meiner Jugend hatte kulturell jede Menge zu bieten. Auch, ja sogar gerade im Vergleich zur Großstadt. Jedes Theater, in dem ich gearbeitet habe, hatte klare Prinzipien, was den Bildungsanspruch, die soziale und gesellschaftliche Verantwortung und vor allen Dingen den künstlerischen Anspruch betrifft.
Kiel zum Beispiel war damals noch eines der wenigen Mitsprache-Theater, die es mit diesem Konzept wirklich ernst meinten. Jeder Mitarbeiter am Theater war dazu aufgefordert, die künstlerische Ausrichtung des Hauses mitzugestalten. Wir haben das als Privileg empfunden und zugleich sehr wohl verstanden, dass wir damit auch die Verantwortung auf uns nahmen, im Sinne einer übergeordneten Sache mitzudenken. So ist es nicht verwunderlich, dass ich die Möglichkeit ergreifen konnte, Anfang der 1980er Jahre aus dem Türkischen das Stück "Eins, zwei, drei – du bist (nicht) frei" von Bilgesu Erenus zu übersetzen und in Kiel auf die Bühne zu bringen. Das Stück behandelte die Ängste und Problematiken der 68er-Gesellschaft in Istanbul, die den deutschen Ängsten und Problemen nicht unähnlich waren, und eröffnete so einen Einblick in die intellektuelle Kultur in der Türkei.
Kiel war ein Theater, das bereit war, mit seiner Stadt zusammen Wagnisse einzugehen; eines, an dem die Möglichkeit bestand, experimentieren zu können und auch mal scheitern zu dürfen. Und es gab weitere sogenannte "Provinzbühnen", die immer wieder von sich Reden machten, indem sie Wagnisse eingingen. Die grandios aufrüttelten – oder grandios scheiterten. Die trotz der Größe der Stadt über das Provinzielle erhaben waren und noch sind. 1975 gründete Holk Freytag das Schlosstheater Moers. In den 1970er und 1980er Jahren haben er und sein Ensemble mit gesellschaftskritischem und experimentellem Theater überregional Akzente gesetzt. Seine Nachfolger setzten die programmatische Linie fort.
Im Idealfall bietet eine kleine Stadt, ein kleines Haus Voraussetzungen, die wir in der Großstadt niemals finden werden: Das Theater in einer Stadt wie Pforzheim steht ganz anders im Mittelpunkt des Bürgerinteresses, als dies in den Metropolen mit ihrem vielfältigen Angebot an Kulturinstitutionen denkbar wäre. Kulturschaffende und Publikum kennen einander, wir können vieles auf kurzen Wegen besprechen, wir ziehen an einem Strang. "Provinz ist, wo Zusammenhänge überschaubar sind. Provinz ist der Raum der übersichtlichen Lebenseinheiten, der Raum, in dem die Menschen sich kennen" schrieb Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung (April 2000). Er fährt fort: "Provinz ist auch die Überschaubarkeit der Machtverhältnisse." Und genau hier liegt ein Problem, das heute die Existenz der Kunst in der Provinz weit mehr in Frage stellt als jemals zuvor: in der Unverrückbarkeit der alteingesessenen Machtverhältnisse, während sich zugleich unsere Gesellschaft so rasant wie nie verändert.
Wir in Pforzheim haben das Glück – obwohl wir uns zwischen zwei großen Staatstheatern (Karlsruhe und Stuttgart) befinden –, dass über die Parteien hinaus alle Bürger das Dreispartenhaus für die Zukunft erhalten wollen. Die Frage ist nur, wie? Auch bei uns sinken die Abonnentenzahlen, allein die Musicals schaffen es im freien Verkauf, das große Haus richtig zu füllen. Da kommen Fragen auf, ob es denn unbedingt nötig sei, sich mit innovativen Theaterformen abzugeben, wo doch die Abonnenten vor allem unterhalten sein wollen. Wie unlängst von einer Stadträtin im Kulturausschuss formuliert: "Ist Integrationsarbeit eigentlich eine originäre Aufgabe des Theaters?" Aber was ist denn die Aufgabe eines mit öffentlichen Geldern geförderten Theaters? Nur Musicals spielen? Doch wohl kaum. "Volkstheater", darauf können wir uns sicher einigen, der Begriff ist strapazierbar und lässt sich in alle Richtungen dehnen. Doch wer ist "das Volk"? Sind es die bundesweit abnehmenden Abonnenten oder auch die, die zum Teil noch nicht einmal wissen, dass es ein Theater in ihrer Stadt gibt? Sind "das Volk" auch die vielen arbeitslosen Jugendlichen dieser Stadt, gar die 48 Prozent Migranten in Pforzheim? Wir haben mit unserem Theater die Chance und meiner Meinung nach auch den Auftrag, künstlerisch einen tiefen sozialen Sinn zu erfüllen und das Wort Integration in reale Bezüge zu setzen.
Immer wieder diskutieren wir das Verhältnis von "Kerngeschäft" und zielgruppenorientierten Projekten. Diese Differenzierung betrachtet im politischen Raum jede einzelne Vorstellung aber wieder nur aus dem Blickwinkel des Mehraufwandes mit geringeren Zuschauerzahlen. Es sind aber doch genau dies die Gelegenheiten, wo wir in die Lebenswirklichkeiten von neuen Zuschauerschichten eindringen können. Um ein Beispiel aus der Provinz, meiner "Provinz", zu bringen: Seit mehreren Jahre erarbeiten wir regelmäßig mit Jugendlichen ein Stück, das, unterstützt von professionellen Schauspielern und inszeniert von einem professionellen Regisseur, in der Stadt zur Aufführung kommt. Unter dem Projektnamen Stage Enter wollen wir vor allem, dass die Gruppe, mit der wir arbeiten, bunt gemischt ist. Wir sprechen also ganz bewusst nicht nur eine bestimmt soziale oder Bildungsschicht an. Stage Enter war nie als "Migrantenprojekt" geplant, wurde aber trotzdem so betrachtet. Auch das kann Provinz sein: Wenn einer mit dem Namen Yeginer zum Migrations-Onkel gestempelt wird.
Unsere Stage-Enter-Aufführung von "Krabat" hat nicht nur das Leben der teilnehmenden Jugendlichen positiv beeinflusst, sondern wurde auch mehr als 15 Mal vor vollen Zuschauersälen gespielt. Mit einer ähnlichen Zielsetzung haben wir auch das Projekt "Herbstblüten" entwickelt, in dem Jugendliche gemeinsam mit Senioren auf der Bühne standen und über ihr Leben, ihre Ängste und Träume erzählten. Natürlich erreichen wir mit diesen Projekten nicht auf einmal die Menge an Zuschauern, die in ein großes Haus passt. Aber wir erreichen mitunter diejenigen, die sonst nie ins Große Haus gehen würden. Und das sind bei weitem nicht nur die Menschen mit fremden Wurzeln, denen die Theater in Deutschland wahrscheinlich bisher auch nicht wirklich deutlich gezeigt haben, dass auch sie zur Teilhabe an der Kultur eingeladen sind.
Heute definieren wir uns in der Provinz, zumindest in der, die ich kennengelernt habe, ausschließlich über Platzausnutzung, also über Quantität statt Qualität. Wenn die Zuschauerquote stimmt, stimmt auch das Programm. Aber wo bleibt unser politisches Gewissen, die künstlerische Auseinandersetzung mit den wirklich wichtigen Themen in Zeiten der Globalisierung, der demographischen Veränderung, der nicht mehr ganz so neuen Armut, der Bildungsschere, der Mietkostenexplosion, der Islamangst und des Bombenterrors? Nur wenn die politisch Verantwortlichen sich ihrer Verantwortung für die kulturelle Weiterentwicklung unserer Gesellschaft bewusst sind, kann sich unser Theatersystem aus dem Primat der Ökonomie befreien und wirklich Neues schaffen. Das Beharren auf Altem, vermeintlich Bewährtem dagegen droht dem Theater das zu nehmen, was es seit Jahrtausenden ausmacht: Seine Lebendigkeit.